Kategorie: Kurzgeschichten
Wenn einer einer (Bahn-) Reise tut…
Das mit dem Bahnfahren ist in Deutschland so eine Sache. Bei der Buchung geht es schon los. Betrachtet man die Preise, die beispielsweise für eine einfache Fahrt von Köln nach Hamburg verlangt werden, liegt die berechtigte Frage nahe, ob man nach Erwerb einer solch exklusiven Fahrkarte automatisch zum Hauptaktionär der Deutschen Bahn AG wird.
Über die Webseite der Bahn kann man durchaus geteilter Meinung sein. Man kann Online-Buchungssystem durchaus intuitiv, übersichtlich und für jedermann verständlich gestalten oder man macht es eben wie die Bahn. Mit Informatik-Diplom im Lebenslauf lässt sich aber an der Webseite wirklich nichts aussetzen. ASCI- und Binär-Code sei Dank ist man als IT-ler tatsächlich Schlimmeres gewohnt.
Damit wären wir dann auch schon beim vielzitierten schlechten Service der Bahn angekommen. Wo sonst ist es offensichtlich Standard, dass der geneigte Reisende wortwörtlich einfach mal pauschal um reichlich Geduld gebeten wird. Die Lösung des Rätsels, wofür man Geduld haben soll, soll ein Mysterium bleiben. Aber so bleibt die Bahnreise auch wenigstens spannend. Denn niemand – inkl. des Bahnpersonals selber – kann sagen, wo genau das Service-aufsaugende schwarze Loch heute auftauchen wird.
Nicht weniger beachtenswert ist das Englisch des Bordpersonals. Der in dieser exotischen Fremdsprache dargebotene Hinweis auf den oder das „Ei-si-ii-serrwis“ läßt alle Reisenden sichtbar in den Spracherkennungsmodus wechseln, aus dem sie erst nach einer gefühlten Ewigkeit mit der Erkenntnis „Ah! Englisch! ICE Service“ wieder auftauchen. Ebenso ist der Satz „Tänk ju for tschoosen deutsch bahn“ sowohl grammatikalisch als auch artikulatorisch betrachtet ein wahres Trauerspiel.
Ein kleiner Trost ist, dass das Personal anscheinend an einer allgemeinen Sprachstörung zu leiden scheint. Denn auch im Deutschen ist man hier nicht wirklich an vorderster Front unterwegs. So „berufen“ sich hier zum Beispiel die Verspätungen auf 10 Minuten anstatt sich zu belaufen. Der Reisegast vom Typ „Wissend“ quittiert das über Lautsprecher Präsentierte mit mitleidvollen bis verständnislosen Blicken während der Sitznachbar vom Modell „Nix verstehen“ über diese sprachlichen Aussetzer unwissend hinwegsieht.
Nicht minder interessant ist während einer Bahnreise das Anfertigen von Verhaltensstudien über die Mitreisenden. Besonders schön anzuschauen und vor allem anzuhören sind hier weibliche Zeitgenossen der Gattung Prosecco-Lerche, deren lautes Geschrei selbst Kaffee-Pappbecher zerspringen und die Nerven aller anderen atmenden Wesen im selben Abteil zerreißen lässt.
Ein ebenso wunderbares Anschauungsobjekt ist der gemeine Rentner vom Reifungsgrad 70+. Das Fehlen einer beruflichen Festanstellung könnte für Aussenstehende als Zustand der vollkommenen Entspannung interpretiert werden. Die Realität dieser bemitleidenswerten Mitmenschen sieht jedoch so aus, dass sie anscheinend stets unter Zeitdruck stehen. Andere Bahnreisende, die vielleicht gerade der irrwitzigen Idee nachgehen, ihre Taschen und Jacken auf den Gepäckablagen über den Sitzen platzieren zu wollen, stellen für sie vollkommen inakzeptable Zeitverzögerungen auf dem Weg zum nächsten freien Sitzplatz dar. Denn eben jener Sitzplatz scheint paradiesartige Verlockungen in ihnen zu wecken und muß deshalb auf jeden Fall erobert werden – gegebenenfalls auch unter waffenartiger Zuhilfenahme der mitgebrachten Gehhilfen.
Hat man sich selber bereits auf einem Platz eingerichtet, läßt sich entspannt nach jedem Bahnhof der Zugang neuer Reisender und damit ein weiteres Phänomen beobachten. Denn hier und da gibt es immer wieder Reisende, die mit der mehrschichtigen Aufgabe des parallelen im Zug nach einem freien Platz und gleichzeitig nach der mitgebrachten achtköpfigen Familie Umschauens vollkommen überfordert sind. In der Regel kommt zu dieser ohnehin schon schweren Aufgabe auch noch das Manövrieren des schrankförmigen, mehrteiligen Koffersets durch die viel zu engen Gänge hinzu. Da können die bereits in beide Richtungen Schlange stehenden anderen Gäste natürlich verstehen, dass der Koffer und die Handtasche sich ebenso wie ihre Träger einen Sitzplatz verdient haben.
Eines ist also auf jeden Fall gewiss: Eine Reise mit der Bahn wird nie langweilig, so dass man die planmäßige Verspätung von mindestens 10 Minuten gerne in Kauf nimmt.
Große Flaute
„Was für ein trostloses Wetter! Sonne, keine Wolken am Himmel und das spiegelglatte Meer soweit die Augen blicken können.“ Diese oder zumindest sehr ähnliche Gedanken gingen ihm schon seit einer gefühlten Ewigkeit durch den Kopf. Man mag sich nun vielleicht fragen, warum ihn ein sonnig strahlender Sommertag nicht wie die meisten anderen Menschen begeistern konnte. Etwas klarer wird das ganze vielleicht, wenn gesagt sei, dass er Marco Polo ist. Ja, DER Marco Polo, der Entdecker und Weltumsegler. Und nun eben der Marco Polo, der bei absoluter Flaute mitten auf dem riesigen Atlantik zur Untätigkeit verdonnert auf seinem Segelschiff vor sich hin dümpelte.
„Abwarten und Tee trinken!“ pflegte der englische Smutje an Bord immer wieder zu sagen, da sie nun schon seit zwei Tagen an mehr oder weniger derselben Stelle schwammen. Also zumindest, wenn man von den paar mickrigen Seemeilen absieht, die sie die Strömung weiter hinaus auf das Meer gezogen hatte. Tee trinken… Die Tee-Vorräte an Bord gingen bereits zur Neige, obwohl man gerade erst vor sechs Tagen in See gestochen war. Und wenn nicht bald eine ordentliche Brise aufkommen würde, dann würden sie noch alle elendig an einer Überdosis Kamille zugrunde gehen und das angestrebte China niemals erreichen.
Marco fing an zu fantasieren… Was wäre, wenn sie sich einen Wal angeln würden, um sich von ihm über das Meer ziehen zu lassen? Ja, das war überhaupt die Idee. Ein Wal musste her und eine Angel und zwar schnell. Man sollte vielleicht erwähnen, dass Marco noch nie zuvor geangelt hatte. Er hasste Fisch und Fleisch und überhaupt alles, was mit Tieren zu tun hatte. Entsprechend hatten seine Angelpläne einen entscheidenden Schwachpunkt: Es gab keine Angel an Bord. Also zumindest keine, mit der man einen ausgewachsenen Wal hätte fangen können, ja noch nicht einmal einen kleinwüchsigen Babywal. Doch durch diese banale Tatsache ließ sich Marco noch nicht von seinen Walfangplänen abbringen. Überzeugend waren für ihn allerdings die Argumente des Schiffsbiologen, der ihn freundlich, aber sehr bestimmt, darüber aufklärte, dass sich Wale von hause aus eher ungern anleinen und vor ein Schiff spannen lassen. Denn ein solches Gespann im Rücken beeinflusse die regelmäßig erforderlichen Tauchgänge doch eher in ungünstiger Art und Weise.
Nun gut, es musste also ein anderer Plan her und zwar einer ohne unkooperative Meeressäuger. Was wäre, wenn er, Marco und seines Zeichens Kapitän dieses Schiffes, seinen Untertanen an Bord einfach befehlen würde, die eben noch dem Wal angedachte Rolle zu übernehmen? So eine kleine Abkühlung würde dem trägen Volk sicherlich sehr gut tun und ganz nebenbei auch noch das Geruchserlebnis an Bord verbessern. Und wenn alle 50 Mann ordentlich schwammen, könnten sie einen Wal doch sicher kräftetechnisch leicht imitieren. Außerdem konnte er diesem Walersatz auch viel besser Kommandos hinsichtlich der erforderlichen Schwimmrichtung geben. Ja, das war ein guter Plan. Nur leider wollte sich der gemeine Pöbel an Bord nicht so richtig von seiner Begeisterung für diese Idee anstecken lassen. Man brachte Argumente mit Haien, sonnenverbrannter Haut und Unterkühlung wegen des doch recht frischen Wassers. Aber erst der Einwand seines Steuermannes überzeugte Marco von den Fehlern in seinem Plan: „Wer soll denn das Schiff manövrieren und den Kurs bestimmen, wenn das gesamte Fachpersonal im Wasser vor dem Schiff schwimmt?“.
Na schön, dann musste er wohl oder übel über eine neue Taktik nachdenken. Was wäre, wenn man sich aus den ganzen Kleidungsstücken der Schiffsbesatzung eine Art Unterwassersegel nähen würde? Ein Segel, durch welches sich eine deutlich vergrößerte Angriffsfläche für die Meeresströmung ergeben würde. Und wenn sie die aufgrund des viel zu warmen Wetters ohnehin überflüssigen Klamotten über Bord werfen würden, würde sich ganz nebenbei auch noch das Gewicht der Schiffsladung verringern, so dass man aufgrund dieser eingesparten Last viel schneller vorwärts kommen würde. Die Besatzung schaute ihn nach seiner euphorischen Präsentation dieser, wie zumindest er fand, rettenden Idee mit Blicken voller Ratlosigkeit über pure Fassungslosigkeit bis hin zu blankem Entsetzen an. Das allgemeine Schweigen wurde durch den Schiffsarzt gebrochen, der als erster seine Sprache wiedergefunden hatte und mit nur einer kleinen, aber dafür sehr tiefgründigen Frage Marcos neusten Plan zunichte machte: „Mal abgesehen davon, dass niemand an Bord des Segelnähens mächtig ist, wollen Sie wirklich, dass uns allen für den Rest dieser noch langen Reise immer und überall mehr oder weniger nackte Männerkörper entgegen prangen? Dies wäre doch aus rein hygienischen und nicht zuletzt auch aus optischen Gründen doch eher bedenklich!“.
Marco musste nicht lange nachdenken. Die Aussicht auf diese nackten Tatsachen überzeugte ihn sofort von der mangelnden Sinnhaftigkeit seines letzten Plans. Aber was sollten sie nur tun? Es musste endlich Bewegung in dieses Schiff kommen, sonst würden sie hier noch alle verrückt werden und sich irgendwann alle gegenseitig auffressen. Das wiederholte und mit jedem Mal penetranter werdende Räuspern des Küchenjungens ließ Marco aus seiner von Aussichtslosigkeit durchtränkten Gedankenwelt zurück in die Realität kommen. Der Küchenjunge erfreute sich ganz offensichtlich an der ihm nun endlich zukommenden Aufmerksamkeit seines Kapitäns und ließ aus seinem Mund sprudeln, was hier wohl schon lange auf interessierte Ohren gewartet hatte. „Ich habe da so ganz zufällig in einem Abstellraum direkt hinter der Kapitänslounge einige doch recht stabil wirkende Holzpaddel gesehen. Können diese denn nicht vielleicht für den ihnen vom Erfinder zugedachten Zweck des Ruderns verwendet werden? So könnten wir zumindest im Schneckentempo vorwärts kommen, was immer noch besser ist, als hier vollkommen untätig rum zu dümpeln!“.
Marco war gedanklich noch mit der interessanten Frage beschäftigt, warum sich dieser kleine Küchenbengel überhaupt auch nur in der Nähe seiner Kapitänslounge aufgehalten hatte. Und so bemerkte er nicht die sehr finsteren Blicke, die der Junge von allen Seiten kassierte. Aber gut, wie dem auch sein. Die Paddel! Ja, an die Paddel hatte er überhaupt nicht mehr gedacht. Er hatte sie kurz nach dem Start ihrer Reise von Deck räumen lassen, da diese sperrigen Dinger einfach nicht in sein Wunschbild eines aufgeräumten Schiffsdecks passten. Und da war sie, die Antwort auf seine quälende Frage, wie man denn endlich wieder etwas Fahrt aufnehmen könnte: Rudern! Gut, dass ihm die Paddel noch eingefallen waren. Sie waren gerettet, er hatte sie mit dieser Idee alle vor dem sicheren Tod bewahrt! Und so ließ der Befehl, dass man doch endlich die Paddel herschaffen und mit dem Rudern beginnen möge, nicht lange auf sich warten.
Dem Küchenjungen war inzwischen die unmissverständlich ihm geltende feindselige Stimmung dank zahlreicher Schläge auf den Hinterkopf schmerzhaft bewusst geworden, so dass er es vorzog, sich lieber schleunigst zurück in die Kombüse zu verkriechen. Für die Besatzung hatte die Ruhe an Bord nun schlagartig ein Ende und die entspannte Urlaubsatmosphäre wich einem hektischen Herumgewusel und –gefluche. Marco nahm dies jedoch gar nicht mehr war. Denn seine Synapsen waren bereits damit beschäftigt, eine sinnvolle und logische Struktur in all die kulturellen und biologischen Schätze zu bringen, die er bei seinen nun quasi unmittelbar bevorstehenden Erkundungen des chinesischen Festlandes sammeln würde. Als einfacher Kaufmann würde er in China ankommen und als gefeierter Entdecker ferner und fremder Kulturen würde er in seine italienische Heimat zurückkehren. Vollkommen glückselig legte er sich an diesem Abend schlafen und wurde von dem konstanten Gemurmel aller nur erdenklichen Verwünschungsformeln und Flüche der rudernden Nachtschicht in den Schlaf getragen.
Und so vergingen einige Tage und Nächte. Marco blickte voller Vorfreude und Tatendrang seinem ersten Landgang in China entgegen und seine Besatzung schuftete in mehreren Schichten rund um die Uhr, um die Aufgabe des immer noch nicht zurückgekehrten Windes zu übernehmen. Eines Morgens wurde Marco durch ein lautstarkes, hektisches Treiben an Deck geweckt und damit mitten aus seiner Krönungszeremonie zum chinesischen Kaiser gerissen. Er ärgerte sich maßlos über dieses abrupte Ende seines sehr real wirkenden Traumes, da er zu gerne noch erlebt hätte, wie er den Thron besteigt und ihn Milliarden seiner neuen chinesischen Untertanen mit frenetischem Beifall und euphorischem Geschrei feiern. Aber gut, die Wirklichkeit erforderte anscheinend seine sofortige Anwesenheit in seiner Rolle des Kapitäns, um wieder Ordnung in diese rücksichtslose Bagage zu bringen. Kaum hatte er das Deck betreten, konnte er auch schon den Grund der allgegenwärtigen Aufregung erkennen. „Land in Sicht!“ kommentierte der noch etwas verschlafen dreinblickende Wachposten von oben aus seinem Ausguck die Szenerie, als ob dies bei der allgemeinen Begeisterung an Bord noch irgendjemandem entgangen wäre.
Ja, tatsächlich, da war ganz klar Land in Sicht. Da nun umgehend seine Befehle gefordert waren, kamen die in Marcos Kopf umherschwirrenden leisen Zweifel nicht dazu, sich zu der durchaus berechtigten Feststellung zu verdichten, dass dies unmöglich China sein konnte. Also zumindest nicht, wenn man logisch denkend davon ausgeht, dass die Ruderer wohl kaum innerhalb der letzten paar Tage übermenschliche Kräfte entwickelt und das Schiff in so kurzer Zeit an das andere Ende der Welt befördert haben konnten. Die Zweifel waren also, kaum dass sie versucht hatten, sich an die Oberfläche seines Bewusstseins zu drängen, auch schon wieder vollständig von der Bildfläche verschwunden. Es war ja auch einfach viel schöner, sich der falschen Annahme zu ergeben, dass dieses Land da vor ihren Augen einfach nur China sein konnte.
„Alle Mann klar machen zum Landgang!“ lautete Marcos Befehl, welcher die Meute harter Kerle um ihn herum unmittelbar in einen Haufen jubelnder und über das ganze Gesicht strahlender Kinder verwandelte – fast wie am heiligen Abend, wenn es an das Auspacken der Geschenke geht. Schnell war der Anker gesetzt, waren die Beiboote zu Wasser gelassen, war das nötigste an Proviant gepackt und waren Geschenke für die Einheimischen ausgewählt und in den Beibooten verstaut. Marco saß selbstverständlich als erster in einem der kleinen Ruderboote und wartete ungeduldig darauf, dass seine Mannschaft endlich alles herbeigeschafft hatte und sich zu ihm gesellte, um ihn endlich an Land zu bringen. Im Rudern hatten sie ja in der letzten Zeit einiges an Praxis gewonnen, so dass man das noch einige hundert Meter entfernte Festland im Handumdrehen erreichen würde. Keiner wollte der letzte auf dem Schiff sein, um ja nicht Gefahr zu laufen, an Bord vergessen zu werden. Dementsprechend schmiegten sich binnen kürzester Zeit insgesamt 51 mal mehr und mal weniger kräftige Männerkörper in den drei mit dieser Fracht vollkommen überladenen Ruderbooten aneinander. Das Rudern gestaltete sich aufgrund dieser körperlichen Nähe etwas schwierig, so dass man insgesamt nur sehr langsamer vorwärts kam.
Nach gefühlten Stunden und realen fünfzehn Minuten sprangen die ersten Übermütigen aus den Booten, um durch das inzwischen nur noch knietiefe Wasser an Land zu waten. Sie wurden von ihrem Kapitän jedoch umgehend wieder zurück in die Boote befohlen. Denn es konnte ja wohl unmöglich angehen, dass der Kapitän nicht als erster diesen neuen, fremden Boden betrat. Also mussten alle noch weitere Minuten eingepfercht nebeneinander verharren, bis sie mit dem Bug der Boote auf den Strand gefahren waren und Marco, seines Ranges angemessen würdevoll, an Land schreiten konnte, ohne sich die teuren Wildlederschuhe im Salzwasser zu ruinieren.
Irgendwie hatte er diesen Moment in seinen Eroberungsphantasien immer ganz anders gesehen. Hier in dieser Realität war irgendwie kein Fanfarenchor, es gab keine geschmückten Pavillons und ein Begrüßungskomitee mit kostbaren Geschenken gab es auch nicht. Nun ja, man hatte sie sicher nur nicht rechtzeitig kommen sehen und musste die Feierlichkeiten zu seinen Ehren noch vorbereiten. Ja, so musste es sein. Es würden sicherlich in Kürze sämtliche hohen Stammesvertreter auf diesen Strand gerannt kommen und die Zeremonie würde beginnen. Also wartete Marco. Und er wartete und wartete. Nach rund einer Stunde, in der er mehr oder weniger regungslos genau an dergleichen Stelle gestanden hatte, wagte sich sein Steuermann, eine durchaus berechtigte Frage zu stellen: “Darf der Rest der Mannschaft denn nun eventuell auch aus den Booten steigen? Und worauf warten wir denn überhaupt noch?“. Der Kapitän würdigte diese unverschämte und zugleich einfach törichte Frage lediglich mit einem geringschätzigen Blick, der auch beim Begriffsstutzigsten der Besatzung keinen Zweifel daran ließ, dass man noch weiter zu warten hatte. Und so warteten die Männer weitere unendlich lange Minuten in den Booten und fragten sich auch weiterhin, was genau sie denn hier taten und worauf zum Henker man eigentlich wartete.
Auch in den folgenden 20, 40 und 60 Minuten tat sich rein gar nichts. Die äußerst positive und erwartungsvolle Stimmung des Kapitäns war inzwischen einer deutlich sichtbaren und vor allem spürbaren Wut gewichen. Seiner Meinung nach kam diese ganz offensichtlich zur Schau getragene Missachtung seiner Anwesenheit einer Kriegserklärung gleich. Man hatte ihn aufs Tiefste beleidigt und vor seiner gesamten Mannschaft, welche übrigens immer noch in den Ruderbooten auf irgendeine Ansage des Kapitäns wartete, bloßgestellt. Dieses unbeschreibliche Fehlverhalten der Chinesen musste bestraft werden, so dass Marco befahl, die mitgebrachten Geschenke unverzüglich wieder zurück zum Schiff zu bringen. Denn man dürfe sich einem solch unzivilisierten und seinesgleichen unwürdigen Volk unter keinen Umständen als spendabel präsentieren – also sofern denn überhaupt noch jemand auftauchen würde.
Das war nicht der Befehl, den die Mannschaft erwartet und erhofft hatte. Lange und äußerst ungläubige Gesichter machten sich breit. Es dauerte einige Momente, bis die Ersten widerwillig zu den Rudern griffen, um mürrisch und bewusst langsam die Ruderboote zurück in Richtung Schiff zu steuern. Nachdem sie die Boote gewendet und sich damit ihre Blicke vom Strand weg in Richtung des Schiffes gedreht hatten, schlug der Ausdruck in ihren Gesichtern schlagartig um in blanke Panik. Alle begannen sofort, wild durcheinander zu schreien und die Ruderer brachten nach einer kurzen Schrecksekunde olympiareife Kräfte zum Vorschein.
Durch das allgemeine Geschrei wurde Marco aus seinen hasserfüllten Gedanken gerissen und versuchte, verärgert über diesen erneuten Ungehorsam seiner Mannschaft, die Ursache für dieses plötzliche Gebrüll auszumachen. Er drehte sich um und blickte den Ruderbooten hinterher, auf denen ein ungewohnt betriebsames Durcheinander herrschte. Er versuchte, sich schreiend Gehör zu verschaffen, aber keiner schien sich auch nur im Geringsten für ihn zu interessieren. Als Marco seinen Blick dann eher zufällig über die abtrünnigen Untertanen hinweg zum Schiff schweifen ließ entgleisten ihm im wahrsten Sinne des Wortes sämtliche Gesichtszüge. Denn nun hatte auch er gesehen, was seine Mannschaft in sofortige Wallung hatte verfallen lassen. Er blickte voller Entsetzen auf sein Schiff, welches sich unter vollen Segeln und mit offensichtlich starkem Wind in selbigen von ihnen wegbewegte. Während sie alle hier am Strand auf die einheimischen Wilden gewartet hatten war offensichtlich Wind aufgekommen, was sie in der anscheinend windgeschützten Bucht, in der sie sich befanden, nicht bemerkt hatten. Sie hatten das Schiff bei ihrer Ankunft aufgrund des seichten Wassers weit außerhalb der Bucht vor Anker setzen müssen. Und nun war es dort draußen dem aufgefrischten Wind voll ausgesetzt und machte sich führerlos auf und davon. Der Anker hatte der enormen Kraft des Windes in allen Segeln nichts entgegen zu setzen. Wieso hatte den niemand daran gedacht, die Segel einzuholen? Musste er denn an alles selber denken? Ein Mal, nur ein einziges Mal wollte er mit Profis zusammenarbeiten. Und was hatte er? Einen Haufen voller fauler Schwachköpfe.
Die Tatsache, dass er alleine dafür verantwortlich war, dass die Segel trotz nicht vorhandenem Wind und diverser Einwände seiner Mannschaft überhaupt gesetzt wurden, hatte er erfolgreich verdrängt. Er hatte einen Tag zuvor alles setzen lassen, was das Schiff an Segeln zu bieten hat, um beim Aufkommen auch nur des leichtesten Lüftchens sofort diese Windkraft nutzen zu können. Aber er konnte sich jetzt nicht weiter mit Überlegungen darüber beschäftigen, warum die Segel gesetzt wurden und wen er hierfür zur Rechenschaft ziehen konnte. Und auch die gegenüber seiner Mannschaft aufkommenden Mordgedanken mussten fürs Erste aus seinem Kopf gestrichen werden. Denn nun musste er dringend zusehen, wie er von diesem vermaledeiten Strand wegkam. Er schrie und hampelte wie ein wild gewordener Pavian herum, so dass sein Gesicht sehr schnell die Farbe des unteren Endes eines solchen Primaten angenommen hatte. Aber das ganze Gehampel und Geschrei half nichts – seine Mannschaft hörte ihn einfach nicht.
Aus Sicht der Mannschaft stellte sich die Situation eher so dar, dass man ihn nicht hören wollte. Das Rauschen der Wellen und das allgemeine Geschrei boten einen wunderbaren Deckmantel. Jetzt mussten sie erst einmal versuchen, ihre eigenen Hintern zu retten. Und wenn das geschafft war, konnte man sich immer noch Gedanken darüber machen, wie oder vielmehr ob man den tobenden Kapitän wieder auf das Schiff holen würde. Die Männer ruderten, als würde es um ihr Überleben gehen. Die aktuell sehr reale Aussicht darauf, bis in alle Ewigkeit auf diesem vollkommen unbekannten Stückchen Erde mit womöglich ebenso unbekannten wilden Tieren oder Eingeboren verbringen zu müssen, war schon schlimm genug. Fügte man dieser düsteren Zukunftsperspektive auch noch die Anwesenheit ihres herrischen und vollkommen verrückten Kapitäns hinzu, nahm das ganze sofort Ausmaße eines Kampfes um Leben und Tod an. Angespornt durch diese grausame Vision schafften sie es tatsächlich, schnell einiges an Strecke zum Schiff gut zu machen. Allerdings befanden sie sich auch immer noch im Windschatten der Bucht und damit in ruhigem Gewässer. Der wirklich spannende Teil ihres Ruderwettkampfes gegen das unbemannte Schiff begann erst, als sie aus dem Windschatten hinaus in die tosende Brandung fuhren und hier gegen Wind und hohen Wellen zu kämpfen hatten. Aber immerhin wurde die Geschwindigkeit des vorauseilenden Schiffes auch durch die Wellen und außerdem auch noch durch den über den Meeresboden schleifenden Anker gebremst. Sie mussten das Schiff unbedingt einholen bevor es tieferes Gewässer erreichen und der Anker damit den Bodenkontakt verlieren würde. Denn ohne diesen Bremsklotz hatten sie keine Chance, das Schiff jemals einzufangen.
Marco hatte sich inzwischen die Kehle wundgeschrien und gestand sich langsam ein, dass er selber dafür Sorge tragen musste, wieder zurück zum Schiff zu kommen. Nur wie sollte er das anstellen? In dieser Situation wurde ihm die unerfreuliche Tatsache bewusst, dass er nie dazu gekommen war, wirklich das Schwimmen zu erlernen. Aber wieso hätte er auch schwimmen lernen sollen? Er lebte ja schließlich auf dem Festland weit weg von jeglicher Art von Gewässer. Und es konnte ja keiner ahnen, dass für einen Kapitän irgendwann einmal sein Überleben von der Fähigkeit zum Schwimmen abhängen würde. Wie aber sollte er nun die unendlich weite Distanz zu seinem Schiff überwinden? Wenn doch endlich diese verdammten Eingeboren kommen würden. Ja, die Eingeborenen, das war die Rettung. Da sie ja anscheinend ohnehin kein Interesse an seiner Anwesenheit hatten, würden sie sich doch bestimmt kooperativ zeigen, um ihn schnellstmöglich wieder zurück auf sein Schiff zu befördern. Wunderbar, er musste jetzt also nur noch die Eingeborenen finden. Er rannte auf das dichte Pflanzenwerk zu, welches wie eine Mauer den gesamten Strand vom dahinter liegenden Land abtrennte. Dies stellt ihn vor das nächste Problem, da er keinerlei Schneidewerkzeug dabei hatte, um sich durch dieses undurchdringliche, mannshohe Gestrüpp kämpfen zu können. Erneut schimpfte er laut vor sich hin und verfluchte aufs Neue seine Mannschaft, die ihm hier und jetzt nicht wie in ihren Arbeitsverträgen unterzeichnet zur Verfügung stand.
Die Mannschaft hatte unterdessen eine neue Taktik im Wettstreit gegen das führerlose Schiff aufgenommen. Alle bis auf drei Männer des in Führung liegenden Ruderbootes sprangen ins Wasser, um das Gewicht des Bootes zu verringern und es damit schneller vorankommen zu lassen. Die dahinter liegenden Boote nahmen die schwimmenden Männer auf, so dass man sich inzwischen übereinander auf die Planken stapeln musste. Die Taktik ging auf – das vorauseilende Ruderboot kam nun viel schneller voran und hatte das entflohene Segelschiff nach einigen dennoch hart umkämpften Minuten endlich eingeholt. Aufgrund des starken Seegangs und der Tatsache, dass sich das Schiff natürlich immer noch weiter bewegte, stand die Besatzung des Gewinner-Ruderbootes aber direkt vor der nächsten Herausforderung. Unter diesen Bedingungen war es äußerst schwierig, die im Wind flatternde, glitschige Strickleiter ergreifen und dann auch noch erklimmen zu können. Einige Fehlversuche später, die für die Kletterkünstler allesamt im kalten und aufgewühlten Meerwasser endeten, schaffte es endlich einer von ihnen zurück an Bord. Es war der Küchenjunge, der Kleinste und Leichteste von ihnen, der auch genau aus diesem Grund mitgenommen und nicht mit den anderen Männern wie Ballast über Bord geschmissen wurde. Nun stand der Junge also als einziger an Bord des riesigen Schiffes und hatte keine Ahnung, was er jetzt tun solle. Denn die Anweisungen der Männer hatten nur bis zu dem Punkt gereicht, an dem er die Leiter hoch zurück an Bord geklettert war. Und da stand er nun und sah sich den unter der Belastung des Windes surrenden Segeln und dem bedrohlich knarzenden Mast gegenübergestellt. Alleine konnte er gegen die gewaltige Kraft, die an der gesamten Takelage zerrte, nichts ausrichten. Mal ganz abgesehen davon, dass er auch nicht die geringste Ahnung hatte, an welchem der hundert Seile und Taue er ziehen müsste, um die Segel einzuholen. Er konnte Kartoffeln schälen und Gemüse schneiden und was es sonst noch so in der Kombüse zu tun gab. Aber vom Segeln hatte er keine Ahnung. Es half alles nichts, er musste warten, bis die anderen Männer es ebenfalls zurück an Bord geschafft hatten.
Es vergingen weitere, zähe Minuten, bis endlich Verstärkung eintraf. Patschnass und wüst fluchend standen nun auch die beiden Männer an Deck, die mit ihm im Ruderboot gesessen hatten. Die Zeit reichte nicht, um dem Jungen eine nach Meinung der beiden nassen Kameraden nötige Standpauke darüber zu halten, warum er hier untätig herumstand. Die Männer hechteten sofort zum Großsegel. Aber unter der Last des Windes hatten sie auch zu dritt keine Chance, es einzuholen. Sie mussten das Schiff aus dem Wind nehmen und zwar schnell, um die Segel herunterlassen zu können. Da das Einholen der Segel ihre volle Kraft erfordern würde, befahlen sie dem Küchenjungen, das Steuer des Schiffes zu übernehmen. Dieser schaute reichlich verwirrt und war schon mit dem bloßen Gedanken an das Steuern des Schiffes vollkommen überfordert. Das Geschrei der Männer riss ihn jedoch schnell aus seiner Lethargie. Hektisch stolperte er zum Steuer. Die Männer wiesen ihm durch grobes Herumgefuchtel mit den Armen die Richtung an, in die er das Steuer drehen sollte. Zunächst tat sich nichts und der Junge befürchtete schon, dass er etwas falsch gemacht habe. Doch dann bewegte sich das Schiff tatsächlich in die gewünschte Richtung. Er freute sich über diese wie er fand heldenreiche Tat. Jedoch hatte er nur einen Bruchteil einer Sekunde Zeit, sich darüber zu freuen, dass er, ein einfacher Küchenjunge, gerade die Macht über dieses riesige Schiff hatte. Denn dann bemerkte er, dass die Männer ihm wild in die entgegengesetzte Richtung zuwinkten. Es dauerte einen Moment, bis er begriffen hatte, was sie von ihm wollten. Aber dann verstand er, dass er sofort gegen lenken musste, wenn er vermeiden wollte, dass sie in Sekunden schon wieder den vollen Wind in den Segeln stehen haben würden. Also lenkte er schnell ein, aber dieses Mal nicht wieder komplett zurück bis zum Anschlag, sondern nur in etwa bis zur Hälfte. Das Schiff reagierte wieder nur sehr verzögert. Aber es reagierte in der erhofften Weise, so dass sie sich nun in einer guten Position einzupendeln schienen, in welcher der Wind kaum noch in den Segeln stand.
Jetzt waren die Männer und ihre Muskelkraft gefragt. Denn auch ohne Wind in den Segeln war es eigentlich unmöglich, diese alleine einzuholen. Sie entschieden sich dazu, es zunächst mit dem kleineren Vorsegel zu versuchen. Sie mussten es schaffen, das dicke Tau, an dem das Segel hoch oben im Mast aufgehängt war, aus den ganzen Rollen und Bremsen zu lösen und es dann langsam herunter zu lassen. Sie hatten einige bereits durch viele Einsätze dieser Art förmlich blank gescheuerte Lederfetzen um ihre Hände gebunden, um sie zumindest notdürftig vor äußerst schmerzhaften Verletzungen zu schützen, die ein durch die Hände rauschendes Hanftau ohne Zweifel verursachen würde. Sie machten sich an die Arbeit und zunächst sah auch alles sehr gut aus. Doch als sie das Segel etwa zur Hälfte heruntergelassen hatten griff eine plötzliche Windböe in das Segeltuch und ließ es wild flattern. Der unerwartete zusätzliche Zug auf dem Tau machte es für die Männer unbeherrschbar, so dass es ihnen unkontrolliert aus den Händen glitt. Sie versuchten gar nicht erst, es zu stoppen, sondern brachten sich sofort in Sicherheit, weg aus der Gefahrenzone des wild umherschlagenden Taus. Nur Bruchteile von Sekunden später krachte das Segel lautstark auf das Deck.
Gut, Segel Nummer eins war damit eingeholt. Aber spätestens nach dieser nicht ungefährlichen Situation war ihnen klar, dass sie alleine keine Chance hatten, auch das Großsegel einzuholen. Ein Blick über das Reling des Schiffes hinunter auf das Wasser verriet ihnen, dass die Kameraden in ihren vollkommen überladenen Booten immer noch gegen den Wind und die Wellen ankämpften. Aber langsam, sehr langsam, kamen sie näher. Den Männern an Bord blieb also nichts anderes übrig, als abzuwarten und das Schiff auf dieser einigermaßen windabgewandten Position zu halten. Aber zumindest konnten sie sich jetzt nach all der Anstrengung und Aufregung der letzten Stunden wieder etwas entspannen. Das Schiff war gesichert und konnte ihnen nicht mehr entkommen. Und somit war auch ihr Entkommen von diesem verlassenen Stückchen Erde gesichert. Es hieß also mal wieder warten, aber darin waren sie ja durch diese Reise schon geübt. Als der Küchenjunge mit drei dampfenden Tassen Tee breit grinsend vor ihnen stand, war dann auch das letzte bisschen Ärger und Hektik einer heiteren Entspannung gewichen.
Wildes Geschrei, unterbrochen durch eindeutige Platschgeräusche, gefolgt von noch lauterem Geschrei ließ sie einige Minuten später wissen, dass nun wohl auch die anderen Männer am Schiff und damit an der Strickleiter-Herausforderung angekommen waren. Sie beschlossen, sich das Spektakel anzuschauen, welches die restliche Mannschaft gerade im Begriff war darzubieten. Und sie wurden nicht enttäuscht: Das Schauspiel bot von artistischen Kletterkünsten über gymnastische Verrenkungen und akrobatische Flugeinlagen bis hin zu komödiantischer Kleinkunst alles, was das Herz des schadenfrohen Zuschauers begehrte. Unzählige wütende Flüche einerseits und unbeherrschbare Lachkrämpfe andererseits später war dann auch der Rest der Besatzung wieder an Bord. Nachdem sich alle Gemüter wieder einigermaßen beruhigt hatten, war man sich einig, dass man klar zum Aufbruch sei. Jedoch fehlte zu diesem Manöver noch eine Kleinigkeit, die sie während des wilden Wettrennens mit dem entflohenen Schiff erfolgreich verdrängt hatten: Ihr Kapitän!
Die feierliche Begrüßung desselbigen war auch nach ihrem überstürzten Aufbruch vom Strand anscheinend ausgeblieben. Zumindest konnten sie mit bloßem Auge am Strand nach wie vor nicht die von ihrem Kapitän angekündigten Festivitäten ihm zu Ehren wahrnehmen. Vielmehr war ihr Befehlshaber überhaupt nicht mehr am Strand auszumachen. Und so stieg die Hoffnung, ohne ihn den Heimweg antreten zu können. Doch der Steuermann zertrampelte dieses kleine Hoffnungspflänzchen jäh mit seinem Ausruf ‚Kapitän voraus’. Das sofortige betretene Schweigen an Bord wurde jedoch umgehend durch das schallende Gelächter des Smutjes gebrochen. Als die anderen Männer dem Smutje das Fernglas aus den Händen rissen, um den Grund für seine Belustigung ausmachen zu können, verbreitete sich das Gelächter flutartig über das gesamte Deck. Denn zu ihrer aller Verwunderung und Belustigung hatte sich ihr Befehlshaber in voller Festmontur ins Wasser begeben in der offensichtlichen Hoffnung, sich durch unkoordiniertes Herumgewedel und -gefuchtel zum Schiff bewegen zu können. Mit Schwimmen – oder besser gesagt mit Fortbewegung im Allgemeinen – hatten die zur Schau gestellten Bewegungsabläufe allerdings wenig zu tun.
Nachdem die ersten Lachkrämpfe über ihren offensichtlich des Schwimmens nicht mächtigen Kapitän abgeklungen waren und sie einen etwas ausführlicheren Blick in das Fernglas riskierten, wurde deutlich, dass Marco sich nicht freiwillig ins Wasser begeben hatte. Es sah ganz danach aus, dass sich seine Hartnäckigkeit letztlich doch noch bezahlt gemacht hatte. Denn aus dem dichten Gebüsch am Strand kamen immer mehr Einheimische zum Vorschein. Allerdings ließen ihre Messer, Speere und Feuerfackeln sowie ihr wildes Auftreten unmissverständlich erkennen, dass die Begrüßung wohl nicht zu Marcos Zufriedenheit ausgefallen war. Da man sich nun genug auf Kosten des Kapitäns amüsiert hatte und eine Rückkehr in die Heimat ohne ihn sicherlich einige unschöne Fragen hervorrufen würde, setzten die Männer Kurs in Richtung Festland, um ihren Kapitän aus dem Wasser zu fischen.
Einige Minuten später fand sich Marco vollkommen durchnässt, durchgefroren und entkräftet wieder zurück an Bord seines Schiffes. Seine edle Kleidung klebte triefnass an seinem Körper und die ehemals akkurat gelockten Haare seiner Perücke bildeten einen schief sitzenden und zerzausten Rahmen um sein Gesicht. Eine unverkennbare Ähnlichkeit mit einem nassen Pudel war nicht zu leugnen. Unter dem zunächst nur unterdrückten, aber dann lautstarken Gelächter seiner Männer stolzierte Marco innerlich vor Wut kochend, aber äußerlich so würdevoll, wie man patschnass und mit nur einem Schuh eben stolzieren kann, in seine Kajüte und wurde für den Rest des Tages nicht mehr gesehen. Seine Männer genossen die unerwartete Freizeit und Ruhe an Bord. Denn sie ahnten schon, dass diese nicht von langer Dauer sein würde. Und mit dieser Vorahnung sollten sie auch Recht behalten, da Marcos lautstarke Befehle schon früh am nächsten Morgen über das Schiff hallten. Dennoch hielten die Befehle des Kapitäns eine große Überraschung für sie bereit. Denn seine Forderung lautete, dass sofort Kurs gen Heimat aufgenommen werden solle. Marco hatte für den Augenblick genug von der Fremde, speziell von diesem verfluchten Land, und wollte zu Hause über dem Reißbrett in Ruhe eine neue Reise planen. Dieses Mal jedoch in eine zivilisiertere Region, die seinem Besuch mit der angemessenen Aufmerksamkeit begegnen würde. Doch bis zu ihrer Rückkehr in den sicheren italienischen Hafen würde noch eine ganze Weile vergehen, so dass es nun wieder ‚Abwarten und Teetrinken’ hieß.
Das von Marco und seiner Mannschaft so verfluchte Land sollte historisch betrachtet einige Zeit später noch enorm an Bedeutung gewinnen. Aber erst nachdem ein gewisser Christoph es, ebenso wie Marco nur zufällig, entdecken wird. Christoph wird allerdings so schlau sein und das Land nicht länger unentdeckt und auf der Seekarte unvermerkt zu lassen und damit seinen Platz in den Geschichtsbüchern der Menschheit sichern. Bedenkt man, dass dieser Christoph eigentlich auf dem Weg nach Indien sein wird, wird es umso erschreckender, dass diese mangelhaften Navigationskünste der Fachleute an Bord seiner Santa Maria letztlich dafür verantwortlich sein werden, dass folgenden Menschheitsgenerationen so eindrucksvolle Dinge wie Hamburger, Coca Cola, Disneyland und sich zur Weltherrschaft berufen fühlende Hampelmänner beschert werden. Aber dies ist eine andere Geschichte von einem anderen Kapitän, die aber vielleicht ebenso mit einer großen Flaute und viel Tee begonnen hat.
Liebe macht blind
Sie saß hier nun schon seit Stunden und nach dem siebten Kaffee dürfte sie inzwischen wahrscheinlich mehr Koffein als Sauerstoff im Blut haben. Sie war vollkommen aufgekratzt und wackelte ungeduldig auf ihrem Stuhl hin und her – wegen des vielen Koffeins oder vielleicht doch einfach, weil sie vor Vorfreude und Spannung fast platzte.
Denn wie jeden Samstag wartete sie hier auf ihn. Er, dessen Namen sie noch nicht einmal kannte, kam jeden Samstag hier her in dieses Café, um zu frühstücken. Sie hatte ihn hier vor fast einem Jahr zum ersten Mal gesehen und hatte sich von Anfang an fast magisch von ihm angezogen gefühlt. Zunächst waren ihre Begegnungen eher zufällig gewesen. Doch schon bald hatte sie herausgefunden, dass er jeden Samstag in dieses Café kam.
Und seit dem erwartete sie ihn hier jede Woche aufs Neue voller Anspannung und unbändiger Vorfreude. Bisher hatte sie sich noch nicht getraut, ihn anzusprechen. Aber das sollte sich heute ändern. Seit Wochen hatte sie auf diesen Tag hingearbeitet und -gefiebert. Heute wollte sie sich ihm vorstellen.
Und tatsächlich, dort kam er – pünktlich um 10 Uhr, wie jede Woche. Doch nun forderte erst einmal der viele Kaffe seinen Tribut, so dass sie ihre lange einstudierte Ansprache noch aufschieben musste, bis sie von der Toilette zurückkam. Sie stand auf und ging so elegant und geschmeidig wie es ihr nur möglich war in Richtung Toilette. Er blickte auf und lächelte ihr zu. Sie lächelte freudig zurück und sah sich in Gedanken schon an seinem Tisch sitzen und ihm romantisch tief in die Augen blicken.
Doch im nächsten Moment änderte sich alles. In dem Moment, als sie aus vollem Herzen strahlend und breit grinsend vor die geschlossene Glastür rannte, während er sie immer noch beobachtete.
Liebe macht blind und sie brauchte nun ein neues Stammcafé.